Coaching und mediative Beratung

Führen aus der Ferne

Insbesondere für Führungskräfte, die bisher in sehr dichter räumlicher Nähe zu ihren Teammitgliedern gearbeitet haben, ist nun vieles ganz anders. Während es bis vor kurzem nur ein paar Schritte waren bis zum Arbeitsplatz des Mitarbeitenden, ist man jetzt gegenseitig nicht mehr sofort greifbar 

Eine große Aufgabe für Führungskräfte besteht nun darin, für die einzelnen Teammitglieder einen Raum zu schaffen, in dem sie sich sicher fühlen und bewegen können: je größer dieser Raum ist, umso besser für die Zusammenarbeit im gesamten Team. Wenn die individuelle Sicherheitszone jeweils definiert wird als die Zone der Teamgemeinschaft ist damit die Voraussetzung und Basis dafür geschaffen, dass sämtliche im Team zur Verfügung stehenden Informationen und Ressourcen von allen genutzt und geteilt werden können. Wie bereits im Beitrag über das Gestalten von Zusammenarbeiten ausgeführt, führen Unsicherheiten hingegen oft zu Vermeidungshaltungen. Dass die*der Mitarbeiter*in jetzt gefühlt auch noch viel weiter weg ist und nicht sofort in einem direkten Gespräch erreicht werden kann, erhöht bei vielen Führungskräften die Sorge vor einem Kontrollverlust. 
Ein kleines Beispiel aus unserer Coachingpraxis – lange vor Corona -:

Eine Führungskraft in einem größeren Unternehmen hat ein neues Team übernommen. Im Unterschied zu seinen bisherigen Führungserfahrungen saß dieses Team viel weiter auseinander, an unterschiedlichen Standorten in unterschiedlichen Städten und Ländern. Bisher war er es gewohnt, alle seine Teammitglieder jederzeit sehen und ansprechen zu können. Diese Gewohnheiten (spontan mal eben in den anderen Raum zu gehen und Herrn M. zu bitten, …“) ließen in ihm das Gefühl aufkommen, sowohl für seine Leute in ausreichendem Maße da zu sein, als auch jederzeit kontrollieren und im Bedarfsfall eingreifen zu können. Bei dem neuen Team ging dieses wie er es nannte „klassische Kontrollieren“ nicht mehr. Die fehlende Nähe versuchte er durch besonders genaue und strenge Vorgaben und regelmäßige Überprüfungen zu kompensieren. Die Folge war eine große Unruhe und Unzufriedenheit im Team, die sich auch in Beschwerden über seinen Führungsstil niederschlug. Im Rahmen unseres Coachings wurde ihm bewusst, dass er versucht hatte, seinen alten Führungsstil auf eine völlig neue Herausforderung zu übertragen, ohne zu klären, ob dieses Vorgehen für die vorliegende Situation angemessen ist und ob es den Interessen und Bedürfnissen seines neuen Teams entspricht. Bei der entsprechenden Entwicklung von Hypothesen kam er rasch zu der Erkenntnis, dass dies wohl nicht so sei. In einem ersten Schritt ging es dann um die Ausarbeitung dessen, was ihm in seiner Führungsrolle wirklich wichtig war. Dabei konnte er sich von vielen tradierten und schon länger nicht mehr hinterfragten Gepflogenheiten seines Führungsverhaltens verabschieden, die – für ihn zum Teil überraschend – gar nicht mit seinen eigenen Bedürfnissen korrespondierten. So war es ihm immer wichtig, seine Teammitglieder darin zu ermuntern, möglichst selbstständig Lösungen zu entwickeln. Im Coaching wurde ihm bewusst, dass seine „Unterstützungen“ und „Korrekturen“ sehr wahrscheinlich oftmals als demotivierende „Einmischungen“ und „Kontrollen“ wahrgenommen worden sind. In einem weiteren Coachingschritt entwickelten wir eine passende Strategie, wie er gemeinsam mit seinem neuen Team die zukünftige Zusammenarbeit erarbeiten und damit auf eine gute Grundlage stellen kann.


Der auch in diesem Fallbeispiel sichtbar gewordene Wunsch nach Kontrolle verstärkt sich möglicherweise noch in Zeiten, in denen diese nicht so ohne weiteres erfolgen kann. Dabei ist allerdings auch zu bedenken, dass eine räumliche Nähe oft nur eine Scheinnähe darstellt, denn nur weil die*der Mitarbeiter*in zwei Zimmer weiter sitzt, kann die Führungskraft oft nur schwer erkennen, wie diese Person arbeitet oder was genau sie in welcher Effektivität und Effizienz leistet. Und umgekehrt: trotz räumlicher Nähe erleben viele Mitarbeitende ihre Führungskräfte nicht automatisch als im wahrsten Sinne des Wortes greifbar bei entsprechenden Bedarfen. Daher ist es unabhängig von gefühlter und tatsächlicher Nähe und Ferne für modernes Führen viel erfolgreicher, mit interessenorientiert erarbeiteten Zielen, Bedarfen und Ergebnissen zu operieren, anstatt mit einzelnen kleinen Schritten und TO-DOs, bei denen man sich dann selbst auferlegt, diese einzeln zu überprüfen und zu überwachen, um seiner Führungsverantwortung gerecht zu werden. Um ein Team in einer Welt, die immer schneller, dynamischer, komplexer, vielschichtiger und vieldeutiger wird, erfolgreich zu führen, braucht es etwas ganz anderes: VERTRAUEN. Vertrauen wird zunehmend zu einer immer bedeutenderen Größe im organisationalen Zusammenwirken, um die Kommunikation zu verbessern, Problemlösungskapazitäten freizusetzen, Motivationen zu erhöhen, Kommunikations- und Wissensflüsse zu ermöglichen, Netzwerke auszubauen, Voraussetzungen für effizientes Arbeiten zu schaffen und vieles mehr. Und es sollte uns bewusst sein: „Die Alternative zu Vertrauen heißt Kontrolle“ (Platzköster 1990: 49). Vertrauen erleichtert vieles, da durch Vertrauen in besonderem Maße eine wirkungsvolle Reduktion von Komplexität betrieben werden kann (Luhmann 1973: 7f). Denn Vertrauen bedeutet, dass eine Kontrolle möglich wäre, jedoch nicht ausgeübt wird: „Gegenseitiges Vertrauen und auch Misstrauen werden (…) zum Ersatz für gegenseitige Kontrolle, ohne dass damit im subjektiven Empfinden des Einzelnen die Zukunft unsicherer wird“ (Platzköster 1990: 250). Durch eine permanente Kontrolle und auch bereits durch den eigenen Anspruch an ein derartiges Führungsverhalten erhöht sich jedoch die Komplexität in einem solch gravierendem Maße, dass sie schnell nicht mehr zu bewältigen sein wird. Nun ist Vertrauen allerdings auch nichts, was man einfach anordnen kann. Eine derartige Vorgehensweise wäre bereits wieder sofort kontraproduktiv, denn Vertrauen kann sich nur entwickeln durch ein gemeinsames Gestalten der jeweiligen Arbeitsbeziehungen.  


Wer dieses spannende Thema noch weiter vertiefen möchte, dem seien diese Klassiker empfohlen:  

Platzköster, Michael (1990): Vertrauen. Theorie und Analyse interpersoneller, politischer und betrieblicher Implikationen. Essen. 

Luhmann, Niklas (1973): Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität. 2. erw. Aufl. Stuttgart. 


Der Auf- und Ausbau von Vertrauen ist ohne eine gute gemeinsame Kommunikation allerdings kaum vorstellbar: Kommunikation und Vertrauen bedingen sich gegenseitig. 

Aufmerksames Zuhören, ein gegenseitiges Herausarbeiten worum es wirklich geht und ein gemeinsames Verständnis sicherzustellen waren (und werden es sein) immer schon zentrale kommunikative Größen einer konstruktiven Zusammenarbeit – ob Personen sich in räumlicher Nähe oder weiterer Ferne zueinander befinden. Zweifelsohne hat bei vielen Führungskräften das Bewusstsein für diese kommunikativen Kompetenzen zugenommen, in dem Moment, wo sie einiger Wahrnehmungsebenen beraubt wurden. Durch den Wegfall des täglichen Sehens (und für das Erkennen von Gestik und Mimik ist auch eine Videokonferenz häufig kein adäquater Ersatz, zumal die Qualität der Übertragung mitunter auf einem Niveau ist, dass sich alle Beteiligte mehr mit den technischen Rahmenbedingungen, denn mit den Inhalten ihrer Zusammenkunft beschäftigen, und am allerwenigsten mit den versteckteren Interessen und Bedürfnissen der einzelnen Teilnehmenden) kommt dem aufmerksamen Zuhören automatisch eine noch höhere Bedeutung in der gegenseitigen Verständnissicherung zu. Dazu gehört auch das Hören und Erfahren-wollen durch konstruktives Nachfragen. In einem XING-Beitrag hat neulich eine Führungskraft berichtet, dass er aufgrund der verstärkten Remote-Arbeit in Videokonferenzen mit seinem Team nun vielmehr Fragen stellt als vorher, bspw.: Wisst Ihr jetzt alle, wo Ihr was findet für Eure tägliche Arbeit?“ So sehr dieser Ansatz in die richtige Richtung geht, überrascht allerdings, dass es offensichtlich diese besondere Homeoffice-Situation gebraucht hat, um ein solches Interesse gegenüber den Bedarfen des Teams sichtbar werden zu lassen. Darüber hinaus setzt eine solche geschlossene Frage ausschließlich Teammitglieder mit entsprechendem Selbstbewusstsein voraus, die auch bereit wären, hörbar nein zu sagen, und die eine derartige Frage auch nicht als Floskel abtun werden. Um als Führungskraft sowohl ein aufrichtiges Interesse daran zu zeigen, wie es den einzelnen Teammitgliedern tatsächlich mit dieser neuen Situation geht, als auch um ein differenziertes Bild über die vorhandene Arbeitsfähigkeit und etwaige Verbesserungspotenziale zu gewinnen, bieten sich hier andere Fragearten an.

Zum Beispiel: Skalenfragen: „Auf einer Skala von 0 bis 10: Wie sicher fühlt sich jede*r von Euch gerade, gezielt das zu finden, was Ihr jeweils für Eure tägliche Arbeit benötigt? Und 0 bedeutet: Ich habe keinen blassen Schimmer, wo sich irgendetwas befindet, was ich benötige, und 10 bedeutet: Ich kenne mich perfekt aus und finde blind alles.“ Durch eine solche Frage wird jedes Teammitglied eingebunden, denn von der*dem Fragesteller*in ist darauf zu achten, dass alle Beteiligte eine Zahl nennen. Solche Skalenfragen stellen eine sehr wertschätzende Form des Nachfragens dar, da es vielen Menschen deutlich leichter fällt, bei Fragen 

  • die vielleicht nicht so einfach zu beantworten sind 
  • die eine differenzierte Antwort erfordern würden, 
  • bei denen man noch nicht weiß, wie der Fragende mit der Antwort umgehen wird, 
  • bei denen man nicht sicher ist, wie ehrlich man diese Frage beantworten sollte, darf oder möchte, 

zunächst eine abstrakte Zahl zu nennen. Wenn alle Beteiligte eine Zahl geäußert haben, sollte die*der Fragesteller*in auf die verlockende Anschlussfrage verzichten, für was denn die jeweilige Zahl steht, denn so wird aus der erlebten Erleichterung gleich wieder eine Belastung. Zudem gibt es deutlich Spannenderes zu erforschen. Mit der individuellen Anschlussfrage an das einzelne Teammitglied: „Du hast jetzt X gesagt. Angenommen, in drei Tagen (Zeitraum ist selbstverständlich beliebig und nach Bedarf zu wählen) wirst Du auf die gleiche Frage von mir X plus 1 sagen: was hat sich dann (für Dich) verändert? Woran wirst Du das merken?“ kann die Führungskraft spezifische Bedarfe der einzelnen Personen herausarbeiten. Diese fühlen sich darüber hinaus mit ihren Anliegen wahr– und ernstgenommen. In Ergänzung zu der eben beschriebenen Herausarbeitung von Interessen und Bedürfnissen, lassen sich Skalenfragen auch wunderbar verwenden, um bereits bestehende Ressourcen und wertvolles Vorhandenes (wieder) sichtbar zu machen: „Du hast jetzt X gesagt. Angenommen, in drei Tagen (Zeitraum ist selbstverständlich wieder beliebig und nach Bedarf zu wählen) wirst Du auf die gleiche Frage von mir X minus 1 sagen: was hat sich dann (für Dich) verändert? Woran wirst Du das merken?“ 

Das ist nur ein kleines Beispiel dafür, welche Möglichkeiten sich durch den sorgsamen und zielgerichteten Umgang mit Fragen eröffnen. Damit sind wir allerdings bereits mitten in einen Kommunikationsprozess hineingesprungen. Alles beginnt mit einem aufmerksamen und empathischen Zuhören: dazu mehr in unserem nächsten Newsletter 

Den besonderen Zeiten, wie wir sie derzeit erleben, wird ja oft versucht etwas Positives abzuringen, in dem auf die vielfältigen Chancen verwiesen wird, die in Krisen liegen. Und tatsächlich besteht aufgrund der veränderten Rahmenbedingungen (die weder gewählt noch gewünscht sind, noch vorhersehbar waren) eine besondere Möglichkeit, die eigene Führungsarbeit kritisch zu hinterfragen und zu reflektieren und ggf. zu justieren und neu zu entwickeln. Wir freuen uns darauf, Euch und Sie beim Ausbau der eigenen kommunikativen Kompetenz zu unterstützen.