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Die VUCA-Welt im Alltag: Schienenersatzverkehr in Berlin

Wir leben in Zeiten von großen Unsicherheiten, und die werden bei uns in Berlin immer noch getoppt in Zeiten eines Schienenersatzverkehrs (also statt Bahn, Umstieg auf Busse). Für Ortsunkundige – und davon gibt es immer reichlich in Berlin – gleich mal die erste Hürde, da sie zumeist nur mit dem Kürzel SEV konfrontiert werden, aus dem sich nicht zwingend sofort erkennen lässt, welche neue Herausforderung die komplexe Welt für sie an dieser Stelle bereithält.

Derzeit haben wir wieder das SEV-Vergnügen auf unserer S-Bahn-Hausstrecke, da ein größerer Abschnitt saniert wird, und dieser Teilabschnitt nunmehr mit Bussen überbrückt wird. Da es sich um eine längere Strecke mit mehreren S-Bahnhaltestellen handelt, ist die tatsächliche Fahrzeit somit äußerst schwer zu kalkulieren und in besonderem Maße auch von der aktuellen Verkehrsdichte abhängig. Und nicht nur das: auch die Abfahrtszeiten sind nicht einplanbar, da die Busse am Vorplatz des letzten mit der S-Bahn anzufahrenden Bahnhofs entweder schon stehen oder irgendwann kommen und dann gefühlt auch irgendwann – nach einem für uns jedenfalls nicht zu erkennenden Grund – losfahren. Und obendrein gibt es zudem noch zwei Arten von Bussen: nicht was die äußere Form betrifft, sondern hinsichtlich der Fahrstrecke. Während der eine Bus sämtliche Zwischenhalte ansteuert und dadurch kreuz und quer fährt, düst der andere als Expressbus direkt zu jenem S-Bahnhof, von dem aus normal wieder mit der S-Bahn gefahren werden kann. Die Fahrtzeitenunterschiede zwischen diesen beiden Bussen können erheblich sein: je nach Terminlage kann das zur Entspannung oder zum Gegenteil beitragen. Üblicherweise haben die Busse ein kleines Schild an der Frontscheibe, auf dem man ablesen kann, ob es sich um den Expressbus oder den Fahre-alle-Stationen-an-Bus handelt. Allerdings obliegt es der*dem Lenker*in des Busses daran zu denken, die jeweils richtige Seite des Schildes für den Betrachter von außen sichtbar zu machen. Neulich erzählte mir ein Bekannter, dass er sich sicher gewesen sei, „Expressbus“ gelesen zu haben, und dann doch durch Straßenzüge kam, die er noch nie zuvor gesehen hatte. Auf die entsprechende Frage an den Busfahrer – ob des notwendigen Sicherheitsabstandes und ob des angebrachten Sicherheitsbandes musste er ein bisschen lauter fragen – antwortete dieser: Wat brüllense denn so? Hab ick dit verjessen umzudrehen? Lernse halt Berlin kennen. Und so konnte unser Bekannter das Schöne im Unerwarteten entdecken: Umwege erhöhen die Ortskenntnis. Und alles VUCA-konform: so ein Schild enthält eine Menge Mehrdeutigkeiten.

Neulich sah ich schon von weitem, dass der zweite Bus in der Reihe als Expressbus ausgeschildert war – und wegen eines dringenden Termins brauchte ich auch genau so einen – und während ich an dem Bus vorbei zur Tür ging, sah ich gerade noch aus den Augenwinkeln, dass die Fahrerin das Schild in die Hand nahm. Im Bus habe ich sie sofort gefragt, ob sie als Expressbus fahre, und nach einem kurzen Zögern entgegnete sie mir: Das weiß ich nicht. Innerlich dachte ich mir: Wer außer Ihnen könnte das noch wissen? Doch tatsächlich bohrte ich folgendermaßen nach: Was sind Ihre Kriterien anhand derer sie eine Entscheidung Express oder Normal treffen können? Wieder Zögern, diesmal etwas länger, und dann beugte sie sich schräg nach vorne und murmelte: Wo fährt denn der Bus vor mir lang? Ohne zu zögern ließ ich sie an meinem Wissen teilhaben (ich war mir jedenfalls ziemlich sicher, dass mein geäußertes Wissen auch der Wahrheit entsprach, bevor die geneigten Leser*innen hier etwas anderes vermuten): Der klappert alle Stationen ab. Daraufhin nahm sie das Schild in die Hand und meinte fröhlich zu mir: Na, dann kann ich ja als Expressbus fahren, schwang sich auf ihren Fahrersitz, und wir machten uns vom Acker. Eine hilfreiche Kommunikation ist in der VUCA-Welt nicht zu unterschätzen. Manchmal stehen allerdings Service-Mitarbeiter*innen an der einen Station und weisen den Ankommenden durch gezielte Hinweise gleich den Weg in den jeweils passenden Bus. Deren Arbeit mindert den VUCA-Spaß ganz beträchtlich, doch stehen sie auch nur gelegentlich dort und nur an dieser Station, nie an der anderen Startstation der Busse (jedenfalls nach unseren Erfahrungswerten).

Und die bisher geschilderten sind bei weitem nicht die einzigen Maßnahmen des Schienenersatzverkehrs, unser Gehirn auf Trab zu bringen oder zu halten: auch der kreative Geist wird in außerordentlichem Maße angeregt. Da so oder so mit einer längeren Fahrtzeit zu rechnen ist, bietet es sich an, nach anderen Optionen im öffentlichen Personennahverkehr Ausschau zu halten. Zum Beispiel gibt es auch die Möglichkeit, eine andere S-Bahn-Strecke zu einem ganz anderen Haltepunkt zu fahren, um dann von dort mit der Tram in unsere Ecke zu gelangen. Diese Variante bietet den psychologischen Vorteil, permanent in Bewegung zu sein und auch das Gefühl zu haben, ordentlich voran zu kommen. Ein direkter Uhrenvergleich der jeweiligen Fahrtzeiten führt indes meistens zu Ernüchterungen: das sollte man dann auch nicht tun. Für den besonderen Kick gibt es auch die Variante, die Schienenersatzverkehrsstrecke mit einem Regionalzug zu überbrücken. Um diesen zu erreichen, muss man hingegen erst mit der S-Bahn von unserer Station aus 15 Minuten in die entgegengesetzte Richtung fahren: dort erwischt man dann den Regionalzug, wenn dieser denn pünktlich kommt. Zeitlich eine sehr interessante Variante, doch wenn etwas schief geht, ist man zunächst mal sehr weit von dem eigentlichen Ziel entfernt. Diese Option bietet allerdings zudem noch die Chance auf interessante Kommunikationen: Durch die Fahrt in die 180°-Richtung verlässt man nach kurzer Zeit das Tarifgebiet unserer Umweltjahreskarten und kann sich dann – sollte eine Fahrkartenkontrolle erfolgen – im interessenorientierten Verhandeln üben. Insgesamt: Welch wunderbare Gelegenheiten, und manchmal sind wir richtig ein bisschen traurig, wenn der SEV wieder vorbei ist, oder schreibe ich mir das gerade nur ein?